Ein anderer Lebensrhythmus: Zeit in Brasilien

Wer in Brasilien lebt braucht Zeit und Geduld. Die Begriffe „langsam“, „lange“ bzw. ihre Konterparts „schnell“ und „kurz“ sind natürlich relativ und hängen vom persönlichen Empfinden ab. Letztendlich ist die Wahrnehmung von Zeit auch kulturell geprägt und hängt davon ab unter welchen Bedingungen man aufwächst. Man gewöhnt sich schließlich auch mit der Zeit an andere Relationen.

Viele Alltagsvorgänge, die in Deutschland recht schnell ablaufen, brauchen in Brasilien ihre Zeit. Sei es die Schlange im Supermarkt, in der Bank oder auf dem Amt (gut, letztere kann auch in Deutschland einen hartnäckigen Fall darstellen. Verbesserungen sind in der Hinsicht meiner Meinung nach aber in den letzten Jahren erzielt worden).

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch im Supermarkt der damit endete dass ich fast vor Wut überschäumend den Laden verlies mit ein bisschen (natürlich labberigem) Brot und Aufschnitt als Errungenschaft von über 30 Minuten Wartezeit…Was mich dabei wirklich zur Weißglut brachte war die Tatsache, dass vor mir nur zwei andere Kunden anstanden! Sicherlich, deren Einkaufswagen waren voll, aber dafür hätte der Kassierer im Aldi maximal 2 Minuten gebraucht. Und selbst in ruhigeren Supermärkten wie Rewe oder Edeka wäre das in 4 Minuten durch gewesen. Es lag einfach daran, dass die Kassiererin im Schneckentempo die Waren von links nach rechts verschob, alles feinsäuberlich in Plastiktütchen gepackt wurde, natürlich in jede Tüte nur 3-4 Gegenstände (noch so ein kritikwürdiges Thema, dem ich mich vielleicht ein anderes Mal annehmen werde) und anschließend noch ausgehandelt werden musste in wie vielen Raten die Rechnung gezahlt werden würde. Die Rechnung wurde dann auch noch auf verschiedene Konten aufgeteilt und irgendein Gutschein eingereicht. Selbstverständlich wurde auch noch die 11-stellige Steuernummer angegeben, damit es ein paar Cent Rückerstattung durch das Steueramt gibt und dieses auch genau weiß was wann wo gekauft wurde…

Im Falle von Einkäufen muss ich allerdings feststellen, dass ich mich a) dran gewöhnt habe und es sich b) ein bisschen in den letzten 3 Jahren gebessert hat (glaube ich zumindest. Vielleicht liegt es auch nur an Punkt a) und ich empfinde bloß so). Es gibt auch die sogenannten Express-Kassen, an denen man nur eine begrenzte Anzahl an Produkten pro Einkauf bezahlen kann (es gibt sogar eine Kette bei denen das nochmal aufgedröselt ist in bis 5, bis 10 und bis 20 Artikel Kassen). Deren Schnelligkeit wird zumindest in meinem „Haus“-Supermarkt hauptsächlich durch massiven Personaleinsatz erreicht. Soll heißen, dass es nicht unüblich ist, dass 12-15 Kassen gleichzeitig geöffnet sind, die dann eine „Abfertigung“ von Kunden erreichen, für die bei einem normalen Rewe 3-4 Kassen reichen würden. Effektiv ist das ganze, aber nicht effizient. Schafft andererseits auch Arbeitsplätze. Es gibt sogar extra Geldboten auf Rollschuhen, die Wechselgeld zwischen den Kassen hin und her bringen. Im Rewe würden die dann wahrscheinlich auch den berühmten „Dreier für Storno“ (ihr wisst was ich meine ;-)) von A nach B bringen 😀

Ein anderes Beispiel sind Banken, die mich auch anfangs beinahe zur Verzweiflung brachten. Stellt euch eine Post-Filiale zur Weihnachtszeit vor. So fühlt man sich an einem ganz normalen Tag in einer brasilianischen Bank. Eine enorme Schlange, die sich nur schleichend voran bewegt, was sich allerdings kurz vor Ladenschluss urplötzlich ändern kann… (auch in dieser Beziehung passt der Post-Vergleich). Zeit ist Geld und andersrum (d.h. schlechter Service, lange Wartezeiten etc. aber dafür billig) – das gilt nicht in brasilianischen Banken. Das eigentlich fiese hier sind nämlich die Gebühren. Für fast alles gibt es Gebühren, die in Deutschland heutzutage undenkbar wären. Ihr wollt Geld Online überweisen? Gebühr! Ihr wollt Geld von einer Bank zur anderen Überweisen? Noch mehr Gebühr! Ihr wollt Geld bei eurer Hausbank abheben? OK, dürft ihr 6x im Monat machen, dann kostet es..na was wohl…eine GEBÜHR! Ihr wollt in Bank 1 gehen und dort Geld auf ein Konto bei Bank 2 transferieren? Gebühr. Und ich rede hier nicht von Cent-Beträgen! Das einzige was ich kenne was kostenlos geht und unmittelbar verarbeitet wird, ist in einer Filiale der Bank, bei der jemand ein Konto hat, Geld auf dessen Konto einzahlen.

Weil es auch einigen bürokratischen Aufwand bedeutet ein Konto zu eröffnen, habe ich bisher auch noch kein brasilianisches Konto (man muss nämlich nicht nur die Standardangaben wie Adresse etc. machen, sondern man muss diese auch noch „beweisen“! D.h. Mietvertrag für die Adresse, Einkommensnachweis etc.). Das heißt, das einzige was ich in so einer Bank machen kann ist Geld mit meiner Kreditkarte abheben (geht nicht in allen Banken) und Geld auf Konten bei der jeweiligen Bank einzahlen, ohne dass ich dabei einen Verwendungszweck angegeben kann, d.h. bei irgendwem landet dann einfach mein Geld auf dem Konto ohne Hinweis wo es her kommt. Dann muss ich demjenigen meinen Einzahlbeleg zeigen und er sucht bei seinen Geldeingängen den passenden Betrag raus.

Das letzte Konto das ich in Deutschland eröffnet habe war bei einer Direktbank (Direktbanken gibt es hier anscheinend auch nicht). Dort habe ich ein Online-Formular mit ein paar Basisdaten wie Adresse, Geburtsdatum etc. ausgefüllt, dieses ausgedruckt, bin in eine Postfiliale für die Identifizierung gegangen (dieser Schritt würde bei der Eröffnung in einer physischen Bankfiliale ja sogar entfallen) und habe dann 1-2 Wochen auf den Erhalt meiner Giro-Karte und PIN-Nummer gewartet. Dann konnte ich schon loslegen. Ohne Gebühren…das sind die Luxus, die man in Deutschland genießt und die für einen schon selbstverständlich sind.

Ein weiteres Beispiel für den „anderen Rhythmus“ war der Erwerb einer Prepaid Karte für mein Handy. Man geht hier nicht einfach mal in einen Supermarkt und krallt sich eine Sim-Karte an der Kasse…nein, man geht in eine der unzähligen Filialen des Mobilfunkbetreibers seines Vertrauens (in diesem Fall „Vivo“, mehr zu den verschiedenen Netzen vielleicht ein anderes Mal). Falls man sich vorher schlau machen will, welche Optionen es gibt, vergisst man das lieber, denn auf den Internetseiten gibt es keine vollständigen, transparenten Informationen zu den verschiedenen Tarifen.

Im Vivo-Laden angekommen, zieht man erstmal eine Wartenummer (ja wie auf dem Amt). Nach der obligatorischen Wartezeit (in diesem Fall nur 20 Minuten, beim Internetanschluss war es noch eine Stunde) darf man mit einem Kundenberater sprechen. Dieser kann einem dann die zig verschiedenen Tarife mit gefühlten 500 Sonderangeboten und Rabattmodellen, die alle irgendeinen Haken haben aufzählen, sodass man sich dann am Ende am besten dafür entscheidet erstmal die Prepaid Karte ohne alles zu nehmen. Dann muss der gute Mitarbeiter natürlich wieder erstmal prüfen, ob man denn ist, wer man angibt zu sein. Also Ausweis raus, der nun vom Mitarbeiter kopiert wird. Das bedeutet, dass dieser mit dem Ausweis erstmal für mindestens 5 Minuten verschwindet. Danach bekommt man wieder eines der schönen zahlreichen Formulare mit viel zu engen Feldern zum Ausfüllen eines bunten Straußes an persönlichen Angaben aus. Dann darf man noch weitere Verträge lesen und unterschreiben. Der Mitarbeiter verschwindet zwischendurch immer mal wieder. Und nach geschlagenen 40 Minuten hält man dann hoffentlich schon seine SIM-Karte in der Hand. Also Summa summarum 1 Stunde Lebenszeit für den Erwerb einer einfachen Prepaid Karte für das Handy. Will man nun mit Hilfe dieser frisch erworbenen SIM-Karte die Weiten des Internets mobil erkundschaften, sollte man sich auf viele weitere Momente der Besinnung (a.k.a Wartezeit) einstellen, denn zumindest in São Paulo, ist das Netz den Nutzeranstürmen anscheinend nicht gewachsen. Meistens passiert einfach garnix (hier möchte ich den Betreiber Vivo zunächst mal ausnehmen. Der Grund, dass ich mir da eine weitere Karte geholt habe, ist dass das Netz angeblich besser sein soll, und bisher läuft es auch ganz gut ;-)).

Schließlich verbringt man auch ganz viel Zeit im Verkehr/Stau (zu den öffentlichen Verkehrsmitteln und wie man diese nutzt möchte ich demnächst einen eigenen Artikel schreiben, der angesichts der Weltmeisterschaft 2014 dem ein oder anderen, der nach São Paulo kommt, hilfreich sein sollte).

Wie ihr seht, man wird in Brasilien immer wieder mit Momenten des Wartens konfrontiert, Zeit in sich zu gehen und zu relaxen. Damit es nicht zu langweilig wird, habe ich einen simplen Überlebenstipp parat: wenn ihr allein unterwegs seid immer was zu lesen oder was zum spielen (Smartphone) dabei haben. Und damit es nicht zu stressig wird: deutsche Terminplanung und Genauigkeit am besten vergessen und die Dinge so nehmen wie sie kommen.

Meine Faustregel: 2 Stunden deutscher Zeit entsprechen 3 Stunden brasilianischer Zeit. Das heißt, man kann in einer bestimmten Zeitspanne nur 2/3 der Dinge erledigen, die man in Deutschland in derselben Zeitspanne verrichten würde.

Also immer dran denken: schön locker bleiben und keine engen Zeitpläne schmieden 😉

PS: zur Zeit ist es relativ kalt, d.h. nachts werden es 12 Grad Celsius und tagsüber, wenn die Sonne nicht scheint nur 18-20 Grad. Gepaart mit Regen ist das Wetter schon unangenehm. Wenn die Sonne so wie letzten Sonntag scheint, ist das Wetter allerdings schön frühsommerlich warm und angenehm (nicht zu heiß). Da es keine Heizung gibt bedeutet das, dass man sich unter einer schön warmen Decke vergraben muss und morgens auf dem Weg zum Kaffee machen ein bisschen friert.

Morgen geht es über das lange Wochenende auf nach Brasilia. Ich bin gespannt, was diese Retortenstadt zu bieten hat. Das Straßennamen „System“ habe ich noch nicht durchblickt und es wirkt richtig wirr. Was soll man mit Straßen anfangen, die Srtvn, Smhn, Sqn 302, Shcgn 703, Sctn, Safn etc. heißen???? Auf google maps sieht die Stadt ziemlich abgefahren aus 😀 Da es aber eine Couchsurfing Veranstaltung wird, mache ich mir aber keine Sorgen 🙂

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29. Mai 2013 von Chris
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