Fahrradfahren in São Paulo – Ein Selbstversuch und Plädoyer

Fahrradfahren in São Paulo – ist möglich, macht dem Namen dieses Blogs allerdings alle Ehre.

Zweifelsohne würde es dem Verkehrschaos hier helfen, wenn mehr Leute mit dem Fahrrad unterwegs wären. Dagegen sprechen leider zwei Argumente. Eines wäre städteplanerisch lösbar, das andere technisch.

1. Es gibt (fast) keine Fahrradwege, was aber auf Grund des Fahrstils und der Mentalität der motorisierten Bevölkerung unbedingt nötig wäre! Im Straßenverkehr gelten hier eher die Gesetze…äh welche Gesetze?…des wilden Westens. Jeder fährt wie es ihm gerade passt, die Benutzung des Blinkers scheint bei vielen Fahrzeugen mit horrenden Zusatzkosten verbunden zu sein 😉 und die Hupe dient oft als Ersatz für schlechte Bremsen. Außerdem nehmen viele Fahrer keine Rücksicht auf Fahrradfahrer, vielleicht weil sie es einfach nicht gewohnt sind, weil es ja noch kaum Radfahrer gibt. Gegen diese These spricht allerdings, dass auch wenig Rücksicht auf Fußgänger genommen wird (die sind ja eh nur Bürger 2. oder 3. Klasse) und die sind ja bekanntlich schon seit eh und je in großen Mengen anwesend…

Dies ist die politische / städteplanerische Frage. Einerseits sollte die Einhaltung der Verkehrsregeln forciert werden und die Autofahrer für mehr Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer sensibilisiert werden. Zum anderen sollten getrennte Fahrradwege geschaffen werden, d.h. nicht nur eine bunte Linie auf dem Asphalt, sondern ein physisch von der Fahrbahn für Autos getrennter Weg, z.B. durch einen kleinen Grünstreifen abgetrennt (das würde auch dem Stadtbild zu Gute kommen). Ein gutes Beispiel für die Verbesserung der Bedingungen für Fahrradfahrer gibt New York ab.

2. Die Stadt liegt auf sehr hügeligem Gelände, sodass man andauernd auf und ab fahren muss. Die Anstiege sind teilweise recht heftig. Das in Verbindung mit den hohen Temperaturen während eines Großteils des Jahres, macht das Fahrrad zu einem nicht besonders alltagstauglichen Fortbewegungsmittel. Oder würdet ihr völlig verschwitzt und erschöpft zur Arbeit oder zu Freunden zu Besuch kommen wollen? Das ist ein Problem, dem man mit technischen Maßnahmen wie Pedelecs entgegenwirken könnte. Ein kleiner Hilfsmotor für die Steigungen und schon könnte man hier flott durch die Stadt düsen. Also wie wäre es mit einem öffentlichen Pedelec-Ausleihsystem mit Fahrradstationen auf dem ganzen Stadtgebiet?

Dass es sich hier nur um eine technische Frage handelt ist nur die halbe Wahrheit. Auch bei diesem Thema sind die brasilianische Bürokratie und die marktabschirmenden Tendenzen mit verantwortlich. Für Pedelecs gibt es noch keine passende Gesetzgebung, Bisher müssen Fahrräder mit elektrischem Motor noch wie ein Moped mit Nummernschild angemeldet werden…Hier besteht also auch gesetzgeberischer Nachholbedarf. Erfahrungsgemäß wird das aber ein langwieriger Prozess. Leider.

Ich habe zu dem Thema natürlich einen Selbstversuch gestartet. Es gibt nämlich auch einen kleinen Keim der Hoffnung (wirklich sehr klein!). Die Itaú, eine der größten brasilianischen Banken, hat im Kerngebiet von São Paulo ein Ausleihsystem für Fahrräder aufgebaut: Bikesampa. Auch wenn ihre Motivation hauptsächlich die fahrende Werbefläche war, ist es doch ein schönes Projekt. Es gibt bereits über 100 Stationen, geplant sind 300 Stationen und 3000 Fahrräder. Dort kann man sich ein simples, orangenes (Farbe der Bank) Fahrrad für 30 Minuten kostenlos ausleihen. Danach kosten 30 Minuten je R$5 = etwas weniger als 2 Euro (oder 2 Kilo Limetten). Alles was dafür nötig ist, ist eine Registrierung mit Kreditkartendaten und CPF (Steuernummer ohne die man hier ein Niemand ist, die kann sich aber sogar jeder Ausländer der genug Geduld hat bei der Receita Federal beantragen). Die Fahrräder kann man über eine App auf dem Smartphone oder einen Anruf bei einer Hotline freischalten.

Und so sieht eine Itaú Fahrradstation aus:

Foto

Die Räder haben nur 3 Gänge (nicht so optimal angesichts der Steigungen) und einen praktischen kleinen Korb vorne in den man z.B. seinen Rucksack tun kann oder Frauen ihre Handtasche. Die auffällige Farbe könnte die Überlebenschancen durchaus erhöhen  😉 Für eine kleine Fahrt von A nach B reichen die Räder sogar, solange man keine allzu langen Steigungen überwinden muss. Angesichts der relativ teuren Metro (R$ 3 pro Fahrt) stellen die Räder eine tatsächliche Alternative für mich dar um von „meinem“ Ende der Av. Paulista zum anderen zu kommen, wo viele Bars etc. sind 🙂

Im Straßenverkehr muss man allerdings auf Grund der oben genannten Gründe höllisch aufpassen nicht unter die Räder zu kommen. Von Vorteil wäre es 4 Augen zu haben. Immer schön in alle Richtungen schauen, die Straße vor einem auf sich öffnende Autotüren oder vorfahrtsregelnbrechende Autofahrer abscannen und – ganz wichtig – immer mit den Fehlern der anderen rechnen / niemals auf Verkehrsregeln verlassen! Hier ein Foto von meiner Fahrradfahrerperspektive (ich bin nicht in der Mitte der Straße gefahren, sondern rechts sind geparkte Autos):

image

Ich muss aber zugeben, dass die Rücksichtnahme vieler Autofahrer besser war, als es mir alle brasilianischen Freunde vorausgesagt hatten. Zumindest hier in der Paulista Region waren die meisten vorsichtig und haben beim Überholen ordentlich Abstand gehalten! Aber wie gesagt, man sollte sich da nicht drauf verlassen!

Insgesamt schon ein nettes System, das für kleine Strecken ausreicht. Um längere Bus-/Autofahrten zu ersetzen reicht zum einen das Stationsnetz nicht aus (beschränkt sich auf den zentralen Teil der Stadt) und fehlt zum anderen ein Hilfsantrieb. Hinzu kommt, dass sich kaum einer traut mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilzunehmen, da es keine vernünftigen Fahrradwege gibt.

Sonntags werden übrigens auf einigen Hauptstraßen der Stadt Fahrradwege eingerichtet. Eine gute Gelegenheit mal in die Welt des Fahrradfahrens reinzuschnuppern und Bewusstsein zu schaffen.. (hier sind die Routen eingezeichnet)

Also:

1. Liebe Itaú Bank: Wie wäre es mit Pedelecs an den Stationen?

2. Liebe Städteplaner: bitte richtige Fahrradwege!

3. Liebe Autofahrer: bitte aufpassen!

GD Star Rating
loading...
Fahrradfahren in São Paulo - Ein Selbstversuch und Plädoyer, 5.0 out of 5 based on 7 ratings

23. November 2013 von Chris
Kategorien: Allgemein, Persönliche Erfahrungen, Sao Paulo | Schlagwörter: , , | 5 Kommentare